Zwischen den Zeiten. Die Messestadt auf geschichtsträchtigem
Boden
von Vera Sprau
Vom Tower des alten Flughafens aus kann der Blick
weit über die flache Landschaft schweifen - nur
im Westen von der Silhouette Münchens und im
Süden von der Alpenkette begrenzt. Winzig wirken
von hier aus die eben noch beim Durchwandern der riesigen
Baustelle der Messestadt und des späteren Gewerbegebiets
so groß und mächtig empfundenen Gebäude,
die halb fertigen Wohn- und Geschäftsbauten und
die allgegenwärtigen Kräne. Noch kann man
sich kaum vorstellen, dass auf dieser großen
Fläche da unten in vielleicht 20 Jahren 16.000
Menschen leben und arbeiten werden.
Von hier aus sind es acht Dörfer, die rund um
den Tower in der weiten Ebene zu erkennen sind, und
vier, die das engere ovale Areal, auf dem die Messestadt
entsteht, wie einen Kranz umgeben. Da ist zunächst
im Nordwesten das alte Dorf Riem, das der Messestadt
seinen Namen gibt; nordöstlich davon liegt weiter
entfernt Dornach, zu dem Riem jahrhundertelang verwaltungsmäßig
gehörte. Im Osten schließen sich Salmdorf
und Ottendichl an und im Südosten Gronsdorf,
hinter dem die Gemeinde Haar in der Ferne zu erkennen
ist. Im Süden jenseits der Bahnlinie sieht man
Waldtrudering und schließlich im Südwesten
das Doppeldorf Kirch- und Straßtrudering. Bis
auf Waldtrudering, das erst im 20. Jahrhundert als
Waldsiedlung und Teil von Trudering entstand, sind
dies uralte Orte, ausnahmslos älter als München.
Alle diese Dörfer, die durch ihre Kirchtürme
von hier aus trotz der langsam zusammenwachsenden
Bebauung noch leicht zu identifizieren sind, entstanden
vor über 1000 Jahren in einem Gebiet, in dem
sich Spuren einer weit älteren Besiedlung fanden.
Rund um das Areal der entstehenden Messestadt wurden
Hinweise darauf entdeckt, dass hier bereits in vorgeschichtlicher
Zeit Menschen gewohnt haben. Den ältesten Fund
machte man in der Nähe der Bahnstrecke Trudering-Haar,
wo ein jungsteinzeitliches Steinbeil ausgegraben wurde,
das auf etwa 3000 v. Chr. datiert wird. Unmittelbar
an der ehemaligen Flughafenbegrenzung im Südwesten
grub man in der Nähe der Emplstraße in
Kirchtrudering sogar über hundert bajuwarische
Reihengräber aus dem 7. Jahrhundert aus.
Der Bauer Truchtharo, Leibeigener seines Feudalherrn
Fagana, hatte sich mit seiner Sippe vermutlich schon
um 500 in diesem Gebiet niedergelassen und gab dem
späteren Ort Trudering seinen Namen. Erstmals
urkundlich erwähnt wird der Ort Trudering allerdings
erst 772. Er ist damit aber immer noch die älteste
Siedlung der ganzen Gegend. Riem wird 788 zum ersten
Mal in alten Schriften erwähnt, geht aber wohl
auch auf eine ältere Gründung zurück.
Nacheinander folgen die anderen, vom Tower aus sichtbaren
Orte: Gronsdorf wird 839, Dornach 856, Ottendichl
981, Salmdorf 1015 und Haar 1050 erstmals urkundlich
erwähnt. Münchens Stadtgeschichte beginnt
dagegen über 100 Jahre später, als Heinrich
der Löwe 1158 den Markt "Ze den Munichen"
(bei den Mönchen) gründete.
Die Bewohner der alten Dörfer um Riem waren
über Jahrhunderte hinweg unfreie Bauern, das
heißt, sie besaßen das Land, das sie bewirtschafteten,
nicht selbst. Die Grundherrschaft lag vielmehr bei
den Kirchen und Klöstern oder bei den Adeligen.
Die Bauern hatten nur die Nutzungsrechte an diesem
Land mit strengen Auflagen und hohen Abgaben. Die
Erträge, die mit den damaligen Möglichkeiten
der Landwirtschaft erzielt werden konnten, waren äußerst
gering. So drückten die Abgaben besonders schwer
und die Bauern verarmten immer mehr. Plünderungen,
Brandkatastrophen, Schulden und Frondienste taten
ein Übriges. Sogar der Pfarrer von Trudering,
zu dessen Pfarrsprengel noch bis zum Beginn des 20.
Jahrhunderts die meisten anderen von hier aus sichtbaren
Dörfer gehörten, konnte sich in früheren
Jahrhunderten mit dem Teil des Zehents, der ihm zustand,
und der kleinen Landwirtschaft, die zur Kirche gehörte,
kaum über Wasser halten. Die alte Kirche St.
Martin zu Riem ist noch heute Filialkirche von Trudering.
Auch die Lehrer des Dorfes Trudering, zu dem die Kinder
von Haar und Riem laufen mussten, waren teilweise
so arm, dass sie nicht einmal heiraten durften. Heirat
war damals noch ein Privileg derer, die Besitz hatten.
Nach Einführung der Schulpflicht in Bayern zu
Beginn des 19. Jahrhunderts hatte es noch einmal dreißig
Jahre gedauert, bis erstmals Schulunterricht im ersten
Stock des Hofmann-Hofes in Trudering abgehalten werden
konnte, und weitere zwanzig Jahre, bis der Ort ein
eigenes Schulhaus bekam. Erst 1881 erhielt Riem und
1910 schließlich auch Haar ein Schulgebäude
und die Kinder hatten nicht mehr die langen einsamen
Schulwege zwischen den Dörfern zu bewältigen.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Bauern
Eigentümer des Landes, das sie bewirtschafteten.
Aber durch die Zersplitterung der Felder mussten sie
weite Wege von einem Kleinfeld zum anderen zurücklegen.
Das erschwerte es außerordentlich, die Felder
rentabel zu bewirtschaften. Erst durch die Arrondierung,
wie die Neuaufteilung bei der Flurbereinigung 1856
genannt wird, wurden aus Dutzenden getrennt liegender
kleiner Ackerstreifen sinnvoll zu bewirtschaftende
Anbauflächen. So entstanden respektable Höfe
mit beachtlichen Ländereien in Trudering, Riem,
Salmdorf und Gronsdorf.
Ein Geflecht von kleinen Straßen und Feldwegen
führte durch das Gebiet und verband die Dörfer
untereinander. Nicht nur die Landwirtschaft prägte
den Verkehr auf diesen Verbindungswegen, auch Wallfahrten
und Fahrten zu Kirchenfesten mit geschmückten
Gespannen sah man zu dieser Zeit häufig. Vor
allem bestanden auch enge Verwandtschaftsverhältnisse
zwischen den Bewohnern der Dörfer, die durch
Einheirat und Hofübergaben entstanden. Die Feldwege
und kleinen Straßen wurden aber auch als Handelswege
zwischen den beiden großen Überlandverbindungen
München-Wasserburg und München-Salzburg
genutzt sowie zu den in der Umgebung stattfindenden
Märkten. Viele dieser Orte hatten eine eigene
Schnapsbrennerei. Noch sind sie sichtbar, teilweise
sogar noch in Betrieb. Im intensiver werdenden Licht
der Nachmittagssonne kann ich die Schornsteine der
Brennereien von Salmdorf und Gronsdorf gut erkennen
und stelle mir die Gespanne mit den voll beladenen
Kartoffelanhängern vor, die zu den Brennereien
unterwegs sind und auf dem Rückweg die Brennereirückstände,
Schlempe genannt, wieder mit nach Hause nehmen als
Futter für die Tiere.
Doch Mitte der 30er Jahre gibt es einen jähen
Einschnitt: Der Flughafen auf dem Oberwiesenfeld in
München wird für das hohe Passagieraufkommen
zu klein und die Kriegsvorbereitungen, von denen die
Menschen noch kaum etwas merken, sind hinter den Kulissen
bereits in vollem Gange. Aus diesen Gründen erfolgt
bald der Beschluss der "Hauptstadt der Bewegung",
den Flughafen auf das Gelände südöstlich
von Riem zu verlegen. Bauern und Gärtnereien
aus Trudering, Riem und Gronsdorf werden aufgefordert,
hierfür Land abzutreten. Als Gemeinde muss Trudering
nicht mehr gefragt werden, denn es gibt sie nicht
mehr. Trudering ist der Stadt München am 1. April
1932 "einverleibt" worden, wie es tatsächlich
in einigen Dokumenten heißt. Mit der Gemeinde
Haar, von deren Grund etwa 160 ha, vorwiegend auf
Salmdorfer und Gronsdorfer Gebiet, für den Flughafen
benötigt werden, schließt die Stadt München
im Mai 1937 einen Abtretungsvertrag. Der größte
Teil des benötigten Areals gehörte jedoch
den Riemer Bauern. Was lag also näher, als gleich
die ganze Ortschaft Riem der "Hauptstadt der
Bewegung" einzuverleiben, wie es dann 1937 auch
geschah. Zwar wurden auch hier die Bauern mit etwa
3000 Reichsmark pro Tagwerk entschädigt, aber
landwirtschaftliche Betriebe wie etwa der große
Empl-Hof in Riem, der von ca. 300 Tagwerk 214 abtreten
musste, rentierten sich nach den Landabtretungen nicht
mehr. Die gewachsenen Verbindungen zwischen den Orten
werden zerschnitten und die Dörfer künstlich
voneinander getrennt.
Auf dem 556 ha großen Gelände zwischen
den Ortschaften wurde der modernste Flughafen der
damaligen Zeit unter großem Zeitdruck und mit
einem riesigen Aufgebot an arbeitsverpflichteten Menschen
erbaut. Er entstand nach den Plänen von Ernst
Sagebiel und wurde, zwar mit Verspätung, aber
fast noch pünktlich zum Kriegsbeginn am 25. Oktober
1939 eingeweiht. Der Tower erhält damit seine
Funktion. Für 55 Jahre werden von hier aus die
Starts und Landungen unzähliger Flugzeuge geleitet.
Für ein halbes Jahrhundert blicken die Fluglotsen
der Luftwaffe und später der zivilen Luftfahrt
auf ein riesiges Rollfeld, dessen Start- und Landebahn
mit dem Fortschritt der Technik im Flugzeugbau mehrfach
verlängert werden muss. Für eine dieser
Erweiterungen wird 1958 auch die letzte Verbindungsstraße
geopfert, die als alter Wallfahrtsweg Riem mit Salmdorf
verband. Das Gut Neubau mit seiner einst gemütlichen
Wirtschaft war traditionsgemäß Station
für die Wallfahrer gewesen, verlor aber durch
die neuerliche Ausdehnung des Flughafens seine Existenzgrundlage.
Was wurde von der Glaskanzel des Towers aus und von
den verlassenen Stockwerken unter mir nicht alles
beobachtet! Was dachten die Fluglotsen wohl in den
ersten sechs Jahren im Krieg, wenn sie die Kampfflieger
mit ihrer tödlichen Fracht zum Start lotsten
und nach "gelungener Mission" wieder landen
ließen? Welche Zustände herrschten in diesen
Räumen nach den verheerenden Angriffen der Alliierten
im letzten Kriegsjahr, als Bombenteppiche auf das
Rollfeld abgeworfen wurden und manchmal Dutzende Männer
aus den dort unten arbeitenden Aufräumungsmannschaften
töteten oder verletzten? Meist mussten in diesen
Bombenentschärfungs- und Aufräumungstrupps
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene arbeiten, aber
vor allem Hunderte von KZ-Gefangenen aus der knapp
3 km entfernten SS-Reitschule, die im letzten Kriegsjahr
Außenlager des KZ Dachau war. In den letzten
Kriegstagen schleppten diese die kleinen Düsenflugzeuge
des Jagdgeschwaders Galland auf eigens aufgeschütteten
Kieswegen zur Tarnung aus dem Flughafengelände
in den Schutz der nahen Ortschaften.
Schließlich musste der Flughafen Riem aufgegeben
werden, und jetzt waren es die Amerikaner, die nach
der Besetzung in den ersten Maitagen 1945 vom Tower
aus die eigenen Flugzeuge dirigierten. Auf provisorisch
verlegten Eisenpisten ließen sie ihre Flugzeuge
starten und landen, während - jetzt deutsche
- Kriegsgefangene unter ihnen das Rollfeld ausbesserten
und die Flughafengebäude notdürftig wieder
instand setzten. Von hier aus konnte man auch die
große Barackensiedlung am Flugfeldrand hinter
der gebogenen Tribüne gut erkennen, in der die
Amerikaner bis 1948 untergebracht waren.
Zuerst noch unter der Kontrolle der amerikanischen
zivilen Luftfahrtbehörde, dann, nach der Gründung
der Flughafen GmbH München-Riem auch bereits
in eigener Verantwortung, zogen Ende der 40er Jahre
wieder deutsche Fluglotsen-Teams in den Flughafentower
ein. Die Lufthoheit erhielt Deutschland jedoch erst
1955 wieder. Im März desselben Jahres landete
die erste Lufthansa-Maschine nach dem Krieg auf dem
Rollfeld des Riemer Flughafens. In den kommenden Jahren
folgten ausländische Gesellschaften nach. In
dieser Zeit begann der Airport sich erneut zu einem
modernen Flughafen zu entwickeln. Noch in den 50er
Jahren folgten die ersten Charterfluggesellschaften,
und durch die beginnende Zeit des Wirtschaftswunders
konnten sich immer mehr Menschen Touristenflüge
leisten.
Wieder war es von hier oben aus, dass der Absturz
der BEA-Maschine im Februar 1958 bei Schneetreiben
beobachtet wurde. Bei diesem Unglück kamen neben
anderen Passagieren und Reportern acht Mitglieder
der Fußballmannschaft Manchester United um.
Was muss hier oben vorgegangen sein, als man nach
zwei Fehlstarts ein drittes Mal das O.K. gab und ein
Inferno ausgelöst wurde? Auch das Unglück
am 9. Februar 1970, bei dem eine Comet C4 unmittelbar
am Ortsrand von Kirchtrudering aufschlug, wurde von
hier oben aus sicherlich mit Entsetzen verfolgt. Beide
Unfallstellen lagen unmittelbar an der ehemaligen
Flughafenumzäunung.
Es gab in den fast fünfzig Jahren nach dem Krieg
viele solcher tragischen Ereignisse, aber auch viele
erinnernswerte Höhepunkte des Riemer Flughafens.
Hochrangige deutsche und ausländische Politiker
lenkten in dieser Zeitspanne immer wieder die Aufmerksamkeit
der Bevölkerung und der Medien auf den Flughafen
München-Riem. Viele namhafte Personen aus Kultur
und Zeitgeschichte betraten auf diesem Flughafen erstmals
deutschen Boden. Vor allem durch den Flugtourismus
überstieg 1963 die Zahl der Fluggäste auf
diesem Airport erstmals die Zahl der Einwohner Münchens.
Diese enorme Zunahme an Flugbewegungen hatte natürlich
für die Anwohner des Flughafens katastrophale
Folgen. Lärmbelästigung und Emissionen durch
die immer schneller und immer lauter werdenden Flugzeuge
nahmen in einem solchen Ausmaß zu, dass die
Toleranz der Anwohner mehr und mehr abnahm. Nachdem
immer häufiger tief fliegende Düsenflugzeuge
Dächer abdeckten und weitere Unfälle und
Beinahe-Katastrophen bekannt wurden, formierte sich
der Protest in zunehmendem Maße. 1968 konnte
erstmals eine Großkundgebung der Flughafengegner
über 5000 Menschen auf die Straße locken.
Immer häufiger wurde die Frage aufgeworfen, ob
ein Großflughafen wie der Münchner Airport
so gefährlich nahe an einer Stadt noch weiter
bestehen bleiben könne. Trotz der jahrzehntelang
strapazierten Leidensfähigkeit der Bewohner aller
umliegenden Orte, trotz unzähliger Protestveranstaltungen
und trotz des langsam stärker werdenden politischen
Willens, den Airport zu verlegen, wurde der Flughafen
erst nach langem Tauziehen zwischen allen Beteiligten
ins Erdinger Moos im Nordosten von München verlegt.
In München-Riem war das Fluggastaufkommen auf
über 10 Millionen im Jubiläumsjahr gestiegen.
Am 31. Oktober 1991 startete das letzte Flugzeug,
ein Airbus der PAN AM, von München-Riem aus.
Nach dem Abzug der letzten Umzug-Transporter kehrte
in Riem und Umgebung nach 53 Jahren die lange herbeigesehnte
Stille ein, und diese für das Umland so belastende
Phase der Geschichte war endgültig abgeschlossen.
Es ist gut, dass in der Struktur des Landschaftsparks
zumindest in Ansätzen durch eine Andeutung der
ehemaligen Landebahnen und durch den Erhalt von Tower
und Wappenhalle an diese letzte Phase vor der Entstehung
der Messestadt erinnert wird. Noch sollte es allerdings
wieder einige Jahre dauern, bis nach langen Diskussionen
klar wurde, was einmal statt des Flughafens auf dieser
riesigen Fläche im Münchner Osten entstehen
sollte. Auch das ist inzwischen längst entschieden:
Messe und Messestadt sind entstanden bzw. im Entstehen
und eine neue Ära ist mit dem Jahrhundertwechsel
angebrochen.
Noch ein letzter Blick auf die im Abendlicht gegen
die Alpenkette emporwachsenden Kräne der Messestadt-Baustelle,
dann steige ich nachdenklich die Treppen des Towers
wieder hinab und verlasse das Bauwerk. Wer wird, wenn
er nach Jahren einmal durch die dann dicht bewohnte
Messestadt mit ihren vielen Grünflächen
und dem pulsierenden Leben geht, an die Geschicke
dieses Ortes denken? Wer wird sich der traditionsreichen
bäuerlichen Kulturlandschaft erinnern, die hier
einmal bestand, oder sich später einmal die Geschichte
des Flughafens zwischen Technikfaszination und dem
Alptraum für die Anwohner ins Gedächtnis
rufen? - Wie kaum ein anderer Ort hat mir der alte
Tower erlaubt, "zwischen die Zeiten" einer
geschichtsträchtigen Landschaft zu sehen, die
schon in allernächster Zukunft ihr Gesicht und
ihren Charakter erneut vollständig verändert
haben wird.